"Es": Furcht einflößendes Déjà-vu (2024)

Pennywise geht wieder um. Die Attraktion der Stephen-King-Verfilmung "Es" ist nicht originell, aber dämonisch effektiv. Weil er so gekonnt mit unseren Ängsten spielt.

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"Es": Furcht einflößendes Déjà-vu (1)

Stephen Kings Es ist einsperriger, ja genau genommen unverfilmbarer Roman. Fast zwölfhundert Seiten ister lang, hoch spannend. Durch seinen Mix der Perspektiven und die manchmal extremenLängen findet wohl jeder Leser seinen eigenen Pfad. Keiner erlebt so einen Roman ganzgleich. Es gibt Szenen,die man auch nach Jahrzehnten nicht aus dem Kopf bekommt. Und es gibt solche,bei denen man während der Neulektüre feststellt, dass man sie wohl überblättertoder nur unaufmerksam registriert hat. Dieses Unvergessene, die Lücken werden bei jedem Leser jeweils andere sein, aber jeder Leser hat sie.

Der Roman macht diese Unachtsamkeitzum großen heimlichen Thema. Wie in einem Zeitspagat erzählt er zwei paralleleGeschichten und bezieht seine Wirkung aus dem, was sich zwischen ihnen entspinnt.King schreibtdie Geschichte eines namenlosen Bösen, das in der Kanalisation unter derKleinstadt Derry in Maine schlummert und alle 27 Jahre erwacht, um Kinderzu töten und sich an deren Angst zu weiden. 1958 stellen sich ihm sieben Mittelstufenfreundeentgegen, die sich der "Club der Verlierer" nennen. 1985 müssen diemittlerweile erwachsenen "Verlierer" erkennen, dass Es wieder da ist, und kehrennach Derry zurück, um das Monster endgültig zu vernichten.Weil er dieselben Figuren zweimal mit demselben Bösen konfrontiert, kann derRoman viel sagen über Trauma, Vergessen und Älterwerden.

Die Drehbuchautoren der neuen Filmfassung(darunter Cary f*ckunaga, der bei der ersten Staffel von True DetectiveRegie führte) haben sich voll auf die kindlichen Helden konzentriert. Kings Roman gehörte den Kindern und den Erwachsenen,die aus jenen Kindern werden. Die Verfilmung des Regisseurs Andrés Muschietti gehört den Kindern. Dadurchverschiebt sich auch der Ton der Geschichte. Statt der Unbilden der Erinnerung,geht es Muschietti um die Intensität kindlicher Wahrnehmung. Stattüber das Verhältnis zwischen Kindsein und Erwachsensein nachzudenken, bleibendie Eltern in seinem Film ungefähr so schemenhaft wie Väter und Mütter in Grimms Märchen. Der zweite Teil der Handlung, in dem es um die erwachsenen Kinder geht, wird nächstes Jahr zwar nachgeliefert, nachdem Es in den USA in wenigen Wochen zum finanziell erfolgreichsten Horrorfilmaller Zeiten avancierte. Aber in diesem ersten Film stehen, abgesehen von den letzten paar Minuten, allein die Kinder im Mittelpunkt.

Und ihre Ängsten. Natürlich denkt bei Esjeder an Pennywise, den grell geschminkten, tanzenden Clown, diesmal gespielt von Bill Skarsgård. Pennywiseist die Lieblingsinkarnation von Es, dem Bösen, und aus gutem Grund. Der Clown ist beispiellos Furcht einflößend. Skarsgård spielt ihn mit einem halb verführerischen, halb selbstironischenSingsang, schwankt mehrmals im Satz zwischen fistelnder Komik und knurrendemBass. Seine Bewegungen sind unbeholfen und raubtierhaft in einem. Und wenn dieClownsmaske erst einmal fällt, wird es nur noch alptraumhafter. Wer vor demFilm noch kein bisschen Coulrophobie hatte, wird nach einem einzigenBlick in den nur aus Zähnen bestehenden Rachen der Kreatur befallen sein.

Aber es wäre falsch, die Ängste, mitdenen Es spielt, nur an Pennywise festzumachen. Denn eigentlich bündelt sich in dem Horrorclown nur die überall durch Derry schwappende Angst. Jeder der sieben "Verlierer" definiert sich durch Angst: Bill Denbrough stottert und gibt sich die Schuld amTod seines kleinen Bruders. Stan Uris ist der Sohn eines Rabbis und bereitetsich eher lustlos auf sein Bar Mitzwa vor. Ben Hanscom ist fettleibig, einNerd und neu an der Schule. Beverly Marsh ist daheim den Zudringlichkeitenihres Vaters ausgesetzt und bekommt zum ersten Mal ihre Periode. Eddie Kaspbrak istklein, nervös und wird von seiner Mutter dominiert. Und Mike Hanlon, dereinzige Afroamerikaner der Gruppe, wächst als Vollwaise bei seinem Großvaterauf. Und alle werden sie terrorisiert von den Älteren, den Jungs aus der Highschool, die im Trans Am durch Derrykurven.

Erst allmählich merken die siebenAußenseiter, dass neben, unter oder vielleicht doch in dieser Topografiedes Alltagshorrors namens Kindheit, wo die Orte des Schreckens Klo, Keller undGully heißen, noch etwas lauert, etwas das sie Es nennen. Hier bleibt MuschiettisFilm Kings Roman treu: Pennywise verkörpert weder die Alltagsangst, noch ist erihr irgendwie vorgeordnet. Warum auch? Wasmacht es in der kindlichen Phänomenologie für einen Unterschied, ob um die Eckeein Clown mit dreireihigen Zähnen wartet oder drei Teenager, die den lieben langenTag nichts Besseres zu tun haben, als dich zu vermöbeln?

Der Film bezieht eine gehörige Portionschwarzen Humors aus dem enormen Personalverschleiß der Kleinstadt, den dieErwachsenen einfach hinzunehmen scheinen. Sie hängen im Bildhintergrund neueVermisstenmeldungen auf, verhängen Ausgangssperren, halten Standpauken. Über diegruseligen Ruinen und die unverhältnismäßig gigantische Kanalisation unterihrer kleinen Stadt scheinen sie sich keine Gedanken zu machen. Erst NeuzugangBen spricht es aus: "Derry ist nicht so wie andere Orte." Die Geschichte desOrtes besteht fast vollständig aus groteskenUnfällen und unerklärlichen Tragödien. Und das Frühstücksfernsehen, das aufallen Fernsehern zu laufen scheint, empfiehlt dazu den Besuch der Kanalisation,am besten mit Freunden.

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